Die Krux einer ökologischen Wirtschaft

20. September 2021

Giulias umweltfreundliche Pizza ist teuer. Berufsschülerinnen und Berufsschüler sollen Wege finden wie die Pizzaiola dennoch wirtschaftlich Erfolg haben könnte. Das digitale Lehrmittel «Future Perfect» lehrt aber auch genau hinzuschauen, wenn sich Firmen selber loben.

In einer perfekten Zukunft schont die Wirtschaft Ressourcen und funktioniert als Kreislauf. Das digitale Lehrmittel «Future Perfect» holt diese Vision in die Gegenwart, zum Beispiel mit Giulias ökologischer Pizza. Doch der Reihe nach. An der STF, der Schweizerischen Textilfachschule Zürich, besuchen Lernende unterschiedlicher Berufszweige den Allgemeinbildenden Unterricht von Orlando Temperli. Der Berufsschullehrer arbeitet erst seit Kurzem mit Future Perfect. Seine Schülerinnen und Schüler lassen sich in Fachrichtungen wie Design, Mechatronik, Seil- und Hebetechnik, Veredelung und Herstellung ausbilden. So unterschiedlich diese Berufe auch sind, haben sie alle in irgendeiner Form mit Textilien zu tun. Deren Herstellung ist, was die Nachhaltigkeit angeht, delikat. Man denke nur an den immensen Wasserverbrauch von Baumwollplantagen. Um die Verluste möglichst klein zu halten, werden Pestizide eingesetzt. Nicht weniger problematisch ist die Weiterverarbeitung des Garns. Kleider werden heute fast ausschliesslich in Billiglohnländern hergestellt. Die einst so wichtige Textilindustrie in der Schweiz ist ob dieser Billigkonkurrenz weitgehend zusammengebrochen. Doch stellt sich hier die Frage: Ist das alles nachhaltig? Hat diese Art der Produktion noch eine Zukunft? Wie könnte eine ressourcenschonende, kreislauffähige Wirtschaft in Sachen Kleidung aussehen?

Bei der Textilindustrie muss man aufpassen. Denn auch Biobaumwolle ist oft genug nach dem Färben nicht mehr biologisch.

Wenn ein Schüler von einer Aufgabe überfordert ist oder diese falsch verstanden hat, muss Berufsschullehrer Orlando Temperli einschreiten. Fotos: Roger Wehrli

Beispiele aus der realen Wirtschaft

Thimon Eichwald, Schüler an der STF, hat sich diese Problematik im Unterricht näher angeschaut. Dabei ist er auf MudJeans aufmerksam geworden. Es handelt sich dabei um eine Fair-Trade-zertifizierte Firma mit Sitz in den Niederlanden. Das Besondere an Mud Jeans ist, dass die Hosen zu 40 Prozent aus recyceltem Material weggeworfener Jeans stammen. Laut der Website des Unternehmens bestehen die anderen 60 Prozent aus Biobaumwolle. Zusammengemischt wird daraus ein neues Garn gesponnen, aus dem die neuen Jeansgewoben werden. Laut der Herstellerfirma spart dieses Verfahren Kohlendioxid, Wasser und Energie. Es soll sich laut Mud Jeans um die nachhaltigste Hose der Welt handeln. Und die Holländer tüfteln bereits an einem Verfahren, das die Herstellung einer zu 100 Prozent recycelten Jeans ermöglichen soll. Thimon Eichwald, Seil- und Hebetechniker im ersten Lehrjahr, zollt der Firma vorsichtig Respekt. «Gerade bei der Textilindustrie muss man aufpassen», sagt er, «denn auch Biobaumwolle ist oft genug spätestens nach dem Färben nicht mehr biologisch.» Mud Jeans erscheint ihm nach genauerem Hinsehen jedoch sehr seriös und transparent.

Die Themen sind in kleine Storys verpackt und darum für die meisten Schülerinnen und Schüler leicht verständlich.

Ist die Produktion wirklich nachhaltig?

Joana, eine weitere Schülerin, liegt mit Laptop auf dem Bauch auf dem Sofa des Aufenthaltsraums. Sie hat die Aufgabe, ein Plakat zu gestalten. Es soll übersichtlich und informativ sein. Auch in ihrem Projekt geht es um die Kreislaufwirtschaft. Das Lehrmittel hat ihr dazu einige Firmen vorgeschlagen. Nun schaut sich die 16-Jährige die verschiedenen Websites an und entscheidet sich schliesslich für ein Unternehmen, das recycelte Möbel, Kissen und anderes mehr herstellt. Hier gilt es wie bei Mud Jeans herauszufinden, ob die Produktion tatsächlich nachhaltig ist. Durch die Recherche im Internet lernen die Jugendlichen genau hinzuschauen. Das ist nötig, denn allzu oft wird derzeit mit Schlagworten wie «nachhaltig» oder «ökologisch» geworben. Dies zeigt aber auch, dass sich das Bewusstsein in Richtung Nachhaltigkeit verschiebt. Die Ressourcen sind endlich. Diese Tatsache heisst nichts anderes, als dass wir unsere derzeitige Lebensweise ändern müssen. Darum setzt Future Perfect auf «Bildung für nachhaltigeEntwicklung» (BNE).

Weniger Vorbereitung, mehr Coaching

«Wir setzen uns für einen einfachen Zugang zu BNE – mit Fokus auf kreislaufwirtschaftliche Prinzipien – für alle ein», ist auf der Website zu lesen. Und weiter heisst es da: «Insbesondere junge Leute in der Ausbildung sollen Handlungs- und Reflexionskompetenzen erlangen, um BNE im privaten und beruflichen Umfeld praktisch anwenden und den Wandel mitgestalten zu können.» Orlando Temperli, der zum ersten Mal mit dem auf ein Semester beschränkten Lehrmittel gearbeitet hat, zieht eine positive Bilanz. Er sagt, dass Future Perfect wie ein digitaler Baukasten aufgebaut sei. Das hat den Vorteil, dass die Schülerinnen und Schüler nicht chronologisch und im Gleichschritt vorgehen müssen. Sie können je nach Interesse oder Lust das eine oder andere Thema für sich herausnehmen. Der Lehrer behält dabei den Überblick, da ihm das Programm den Einblick zu allen Aktivitäten der Lernenden erlaubt. Falls jemand von einer Aufgabe überfordert ist oder diese falsch verstanden hat, bleibt das Orlando Temperli nicht verborgen. «Hier ist es wichtig, dass ich einschreite und zusammen mit dem Schüler oder der Schülerin das Thema anschaue. Ich funktioniere also ein wenig wie ein Coach»,sagt der Lehrer. Grundsätzlich müsse er wegen des Lehrmittels weniger Vorbereitungszeit investieren. Temperli sieht Future Perfect nicht als ein Lehrmittel, das völlig neues Wissen vermittelt, sondern eher als einen Zusatz, den man sehr gut in den Unterricht integrieren kann. «Die Art und Weise, wie das Lehrmittel aufgebaut ist, kommt der jungen Generation sehr entgegen», so Temperli. «Denn das Ganze erinnert in seiner Aufmachung an ein Computerspiel. Die Themen sind in kleine Storys verpackt und darum für die allermeisten Schülerinnen und Schülerleicht verständlich.»

Die Fotostory über Giulias Pizzeria verdeutlicht, wie schwierig es sein kann, lobenswerte Vorsätze in die Tat umzusetzen.

Nur weil ein Unternehmen mit Nachhaltigkeit wirbt, produziert es nicht zwingend ökologisch. Die Schülerinnen und Schüler lernen, genau hinzuschauen.

Ökonomische Regeln und Zwänge

Das Lehrmittel gliedert sich in sieben «Missionen». Während es in der Mission 1 ganz grundsätzlich um Ressourcen und Rohstoffe geht, erarbeiten die Lernenden in der letzten Mission ein Projekt für den eigenen Ausbildungsbetrieb, in dem es darum geht, die Kreislaufwirtschaft zu verbessern. Das Gelernte wird auf diese Weise in die Praxis transferiert. In den vorhergehenden Missionen lernen die Schülerinnen und Schüler Giulia kennen. Die junge Frau übernimmt nachdem Ende ihrer Ausbildung eine Pizzeria. Einerseits möchte sie das Geschäft nach ökologischen Grundsätzen führen, andererseits muss sie schauen, dass sie weiterhin Gewinn erwirtschaftet. Ihr schwebt vor, viel weniger Abfall zu produzieren als bisher. Ausserdem möchte Giulia saisonale Produkte aus der Umgebung kaufen, anstatt sie von weither zu importieren. Diese Änderungen verteuern die Herstellung der Pizza. Um möglichst keine Gewinneinbussen zu haben, sieht sich die neue Geschäftsführerin gezwungen, die Pizzapreise zu erhöhen. Die Schülerinnen und Schüler haben nun die Aufgabe, anstelle von Giulia einen Flyer für die Kundschaft zu konzipieren. Darauf soll einfach und überzeugend dargestellt sein, warum die Pizzapreise gestiegen sind. Wichtige Stichworte werden bei dieser schwierigen Aufgabe mitgeliefert – so zum Beispiel Saisonalität, Regionalität, Transport, Umwelt und Kohlendioxid-Emissionen.

Nachhaltigkeit ist teuer

Die Fotostory über Giulias Pizzeria verdeutlicht, wie schwierig es sein kann, lobenswerte Vorsätze in die Tat umzusetzen. Manchmal scheinen die ökonomischen Zwänge unüberwindbar. Die Auseinandersetzung mit Giulias Geschäftsideen lässt einen darüber nachdenken, warum beispielsweise viele Produktionsschritte ins Ausland verlagert werden oder in welchem Zusammenhang Konkurrenzdruck, Zahlungsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein von Konsumentinnen und Konsumenten stehen. Spätestens hier schliesst sich ein Kreis. Wir alle sind einerseits Produzierende und andererseits Konsumierende. So gesehen stehen wir alle in der Verantwortung für eine nachhaltige, gerechte und ressourcenschonende Wirtschaft. Es ist schade, dass es bislang kein vergleichbares Lehrmittel für die obligatorische Schulzeit gibt. Dieses Thema ist zu wichtig und komplex, um es erst in der Berufsschule abzuhandeln.

Roger Wehrli

Zum Originalartikel von LCH

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